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Wenn die Rede Antwort steht

Das gesprochene Wort ist die Urmutter aller Kommunikations- und Führungsinstrumente. Ihre Wurzeln hat die Kunst der Rede in der Antike. Vielleicht auch deshalb wirkte sie lange über jeden Wandel erhaben. Doch nun drängt auch dieser Klassiker aus seinem Korsett. Der analoge Vortrag macht Zweitkarriere im Netz, Manuskripte öffnen sich für den digitalen Austausch. Kurzum: Reden werden agiler. Das kann den Stakeholderdialog bereichern.

Auf welche Rede freut Ihr Euch gleich am meisten? Jetzt abstimmen!“ Das wollte kürzlich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) von seinen Twitter-Followern wissen. Die Vereinigung hatte anlässlich ihres Gipfeltreffens Parteienvertreter eingeladen, zur aktuellen Wirtschaftspolitik zu sprechen. Bei dem Aufruf ging es um mehr als nur die allgemeine Erwartungshaltung an die prominenten Redner. Die Community sollte über die Qualität der einzelnen Ansprachen abstimmen. „Wir wollen Eure Meinung hören! Hat Euch die Rede von Kanzlerkandidat Martin Schulz überzeugt?“, fragte der BDI und ermunterte dazu, sich auch am Twitter-Voting über die Vorträge von FDP-Chef Christian Lindner, Grünen-Frontmann Cem Özdemir und Bundesminister Alexander Dobrindt zu beteiligen.

Angestaubtes Image

Warum die Begebenheit am Rande des „Tages der Deutschen Industrie“ erwähnenswert ist? Weil hier ein Format zum Objekt digitaler Interaktion wurde, das dafür nicht gerade prädestiniert erscheint. Die Rede gilt immer noch als ein zutiefst analoger und in sich geschlossener Akt der Kommunikation. Dutzendfach werden jeden Tag in Unternehmen, auf Fachtagungen und branchenpolitischen Podien Ansprachen gehalten. Selten jedoch dringt der Sprechakt aus der dinglichen in die vernetzte Welt vor. Dass eine Rede live oder gar viral geht, ist die Ausnahme. Was auch damit zusammenhängen mag, dass sie einer fast schon anachronistisch anmutenden Sender-Empfänger-Hierarchie folgt: Der Vortragende spricht, das Publikum schweigt und hört zu. Sind Worte und Applaus verklungen, hat die klassische Rede ihre Aufgabe erfüllt. Im Besteckkasten der PR- und Positionierungsarbeit und als internes Führungsinstrument behauptet sie ihren angestammten Platz, steht aber nicht unbedingt im Ruf, ein besonders zukunftsgerichtetes oder experimentelles Vehikel zu sein. Was übrigens auch daran abzulesen ist, dass die Rede in den allgegenwärtigen Content-Debatten kaum stattfindet, obwohl das Storytelling ihre Stärke ist.

Neuland im Visier

Wer genauer hinschaut, stellt allerdings fest: Auch dieses altmodische Kommunikationsmittel schickt sich an, neues Terrain zu erkunden. Die Rede nimmt nicht mehr allein die konventionelle Vortragssituation in den Blick, sondern entwickelt eine Art kanalübergreifendes Bewusstsein – zumindest dort, wo strategisch und mit ganzheitlichem Anspruch kommuniziert wird. Das macht sich unter anderem daran bemerkbar, dass der Vortragsstil von Managern einfacher und knapper wird. Analysen wie die des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) oder das vom Handelsblatt und der Universität Hohenheim erstellte Rhetorik-Ranking zeigen: Die Qualität der Hauptversammlungsreden in den DAX 30-Unternehmen hat sich in den letzten Jahren merklich gesteigert. Eine pointierte Sprache des CEO erleichtert nicht nur dem Publikum vor Ort, den Inhalten der Rede zu folgen. Klare, kurze Botschaften fallen auch im Netz eher auf fruchtbaren Boden als gedrechselter Finanzjargon. Geht die Saat auf, können soziale Medien zur Echokammer der Rede werden und ihr mehr Gehör verschaffen.

Rhetorik als Snack-Content

Zumindest in den großen Unternehmen scheint eine wachsende Zahl an Kommunikatoren das als Chance zu begreifen. Fortschrittliche Redenschreiber sind mittlerweile darauf bedacht, bei der Textarbeit auch den Bedürfnissen eines digitalen Auditoriums gerecht zu werden. Das Manuskript präpariert den Redner für seinen mündlichen Auftritt, das bleibt seine vornehmste Aufgabe. Als Teil einer integrierten Strategie sind Redetexte heute aber idealerweise so beschaffen, dass sie auch Filethappen für die begleitende Social-Media-Kommunikation enthalten, etwa in Form besonders zugespitzter Appelle oder Thesen. Die Herausforderung: Losgelöst aus dem unmittelbaren Kontext der Rede, müssen diese Schnipsel im digitalen Orbit als eigenständige Botschaften funktionieren. Gleichzeitig sollen sie den roten Faden der Rede zumindest erahnen lassen.

Das annotierte Manuskript

Kulturpessimisten beklagen gerne, dass die dergestalt fragmentierte Rede ihren Wesenskern preisgibt, nämlich die Entwicklung ausführlicher Gedankenstränge, das gründliche Ausloten und komplexe Argumentieren. Sie gehe in die Knie vor einer digital degenerierten Gesellschaft, in der die Aufmerksamkeitsspanne des Individuums bei nur noch wenigen Sekunden liege. Die große Rede habe sich überlebt, unken gar manche Experten.

Dabei übersehen sie, dass digitale Kulturtechniken dem Traditionsformat auch einen Innovationsschub geben können. Ein Paradebeispiel ist die Praxis des Annotierens von Reden. Bei uns noch nicht verbreitet, ist das virtuelle Kommentieren von Ansprachen anhand des Sprechzettels im englischsprachigen Raum ein gängiges mediales Format. So haben etliche große Redaktionen die Reden des neuen US-Präsidenten Donald Trump akribisch seziert – ebenso wie zuvor die Abschiedsworte seines demokratischen Amtsvorgängers.

Typischerweise versehen Journalisten (und bisweilen auch registrierte Leser) die Ausführungen im Nachhinein entlang des Transkripts mit Anmerkungen oder reichern sie durch Zusatzinformationen an. Trumps Inaugurations-Ansprache wurde vom amerikanischen Nachrichtenportal Vox sogar in Echtzeit transkribiert und kommentiert. Stücke dieses Kalibers finden sich von der New York Times über die Washington Post bis hin zum britischen Guardian in einer Reihe bedeutender Onlinemedien diesseits und jenseits des Atlantiks. Letzterer knöpfte sich erst kürzlich eine Regierungserklärung von Premierministerin Theresa May vor. Und der ebenfalls in Großbritannien beheimatete Telegraph klärte unterdessen auf, was Königin Elizabeth II. mit ihrer jüngsten Queen‘s Speech dem Volk wirklich hatte sagen wollen.

Dialog statt Deklamation

Das Annotieren von Redetexten ist kein Privileg der Medien. Auch die Politiker selbst haben es als PR-Werkzeug für sich entdeckt. Barack Obama und Hillary Clinton machten die Auseinandersetzung mit ihren Reden zu einem Baustein ihrer Kampagnen. Mithilfe technischer Infrastrukturen, wie sie etwa die Plattform Genius bereitstellt, konnten Wahlkampfunterstützer und Bürger sich direkt mit den Sprechtexten ins Gespräch begeben. Das Spannende daran: Das netzöffentliche Manuskript bricht mit der hergebrachten Logik der Rede. Es emanzipiert sich sozusagen vom Vortragenden und kollaboriert mit einem erweiterten Publikum. Die annotierbare Rede macht sich zugänglich für neue Sichtweisen, Gegenargumente und ergänzende Fakten. Monolog wird zum Dialog, das starre Redemanuskript zur vielstimmigen Partitur. Und nicht nur das. Die bereits gehaltene Ansprache erschließt einen zusätzlichen Resonanzraum, der weit über den ursprünglichen Sprechanlass hinausreicht.

Teilhabe wagen

Was sich andeutet: Die Rede im digitalen Zeitalter will mehr sein als nur mündliche Überlieferung, und das Manuskript begnügt sich nicht mehr damit, im Newsroom-Archiv auf Abruf zu warten. Das Medium ist im Begriff, Grenzen zu überwinden und seinen Horizont zu erweitern. Technologisch steht dem nichts im Wege. Vielmehr ist es nun an den Kommunikatoren, die agile Rede, ihre Spielfelder und Einsatzmöglichkeiten zu erproben. Das kann die Ansprache der Führungskraft sein, die sich im Social Intranet der Diskussion mit Mitarbeiterteams stellt. Oder die Keynote des Vorstandsvorsitzenden, die Stakeholder zum Gedankenaustausch und Kommentieren einlädt.

Die wortgetreue Befassung mit einem Redetext wird Kritik und Widerspruch hervorrufen, was getrost einkalkuliert werden darf. Gerade darin liegt schließlich der Reiz des Formats. Es macht das Soloinstrument der Rede diskursfähig in einer mitteilsamen Welt, die nach hierarchiefreiem Austausch strebt. Im besten Fall befruchten der Sprechtext und seine virtuellen Gesprächspartner sich gegenseitig. Anders als ihre herkömmliche Darbietung bedarf die annotierbare Rede in der Unternehmenskommunikation der Moderation. Das sollte der Experimentierfreude aber keinen Abbruch tun.

Haben hiesige Medien das Prinzip erst einmal auf dem Schirm, könnte auch der komplette Wortlaut von Manageransprachen zum Gegenstand öffentlicher Erörterungen werden. Warum diesem Szenario nicht einfach einen Schritt voraus sein – und schon heute die Rede als partizipativen Akt verstehen?


Foto: Unsplash, Jeremy Yap

Dieser Text ist zuerst im Online-Magazin Pressesprecher erschienen.

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