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Renaissance der Texte

Gerne wird der Bedeutungsverlust des geschriebenen Wortes beklagt. Doch allen Unkenrufen zum Trotz ist das Medium Text ziemlich lebendig. Inmitten flüchtiger Bilder und Töne bleibt Schriftlichkeit die Königsdisziplin der Kommunikation.

Sind Sie bei Twitter? Dann kennen Sie wahrscheinlich die neue Funktion, die mit einem der jüngsten Updates ausgerollt wurde: Retweets lassen sich jetzt optisch auftakeln. Konnten sie bislang ausschließlich mit einem Kommentar versehen werden, dürfen es nun auch Fotos, GIFs und Videos sein. Die Neuerung ist symptomatisch. Schlichter Text allein scheint als Ausdrucksform nicht mehr zu genügen. Bunte Motive und Animationen beanspruchen unsere Aufmerksamkeit und drohen dem Geschriebenen den Rang abzulaufen.

Auf boomenden Plattformen wie Instagram oder TikTok wird die Übermacht der Bilder und Sounds kultiviert. Text spielt höchstens noch eine Statistenrolle. Gleichzeitig bedrängen Podcasts und Sprachroboter das schriftliche Wort. Und auch das noch junge Hybridformat Blogcast, also die Hörversion von Artikeln, unterwirft sich dem Audio-Trend. Kein Wunder, dass Kulturpessimisten den Abgesang auf den Text anstimmen. Kommt Lesestoff in der Kommunikation aus der Mode?

Autoren mit Ambitionen

Mein Eindruck ist ein anderer. Zwar konkurrieren Texte heute in der Tat mit attraktiven Formaten für das Ohr und den ständigen visuellen Verlockungen im Netz. Trotzdem, oder gerade deshalb, genießt das geschriebene Wort hohes Ansehen – wenn nicht gar wachsende Autorität. Bestes Beispiel: Fach- und Führungskräfte, die sich ins digitale Rampenlicht trauen und öffentlich kommunizieren. Vielen von ihnen tun das klassisch in Textform. Sie schreiben über den eigenen Berufszweig, teilen ihr Spezialwissen oder melden sich in Debatten zur Zukunft der Arbeit zu Wort. Und das nicht nur auf Corporate Blogs und anderen unternehmenseigenen Kanälen; sondern bevorzugt auch auf der Businessplattform LinkedIn, deren Publikationsformat „Pulse“ sich zum Umschlagplatz für informativen Content und pointierte Meinungsstücke entwickelt hat. Ähnliches gilt für XING, wo sich ausgewählte Expertinnen und Experten auf der Klartext-Bühne oder als Branchen-Insider einer diskussionsfreudigen Leserschaft präsentieren.

Der CEO als Edelfeder

Text mag auf den ersten Blick ein PR-Instrument mit schwindender Lobby sein. Wer genauer hinsieht, stellt fest: Der Aufsatz lebt. Mehr noch: Kommentare und Erörterungen in Textform gehören auch im „Neuland“ zur Reputationspflege. Insbesondere in der CEO-Kommunikation ist die elaborierte Schriftlichkeit beliebt. Der Longread von Topmanagern bei LinkedIn avanciert gerade zu einer Art eigenen Textgattung. Vom persönlichen Statement in der Unternehmenskrise (Guido Kerkhoff, vormals Thyssenkrupp) über den gesellschaftspolitischen Appell (Frank Mastiaux, EnBW) bis hin zum fast schon feuilletonistisch anmutenden „Regentage“-Essay  (Joe Kaeser, Siemens): Wenn Vorstandschefs sich im Netz zur Großwetterlage und aktuellen strategischen Themen äußern, ist meist Text das Medium der Wahl. Ob auf externen oder firmenzugehörigen Plattformen: Der bloggende CEO demonstriert Meinungsstärke, Deutungshoheit und im besten Fall auch digitale Sozialkompetenz. Wer schreibt, der bleibt, heißt es im Volksmund. In der Wirtschaft gilt: Wer schreibt, der führt.

Ankerplatz fürs Denken

Das trifft ganz besonders in Zeiten galoppierender Veränderung zu. In unübersichtlichem Gelände kann Text Halt und Orientierung liefern. Gerade bei komplexen Gedankengängen spielt er seine ganze Stärke aus. Geschriebenes hat Gewicht in einer Welt des schnell verdaulichen Contents und der oberflächlichen Effekte. Wer spult schon einen Podcast zurück? Oder ein Video? Der Text dagegen lädt zum Verweilen und tieferen Erkundungen ein. Zwischen den Zeilen hin- und herscrollen, die besonders interessante Passage noch einmal lesen, ein anregendes Zitat abspeichern: All das erlaubt das konventionelle Produkt Text ohne jede Mühe. Ein gehaltvoller, nutzenstiftender Artikel ist Inspirationsquelle und Ankerplatz des Denkens. Und damit immer auch eine Chance für nachhaltige Kommunikation.

Wertschöpfung durch Worte

Wer überzeugende Texte zu Papier und auf die Bildschirme und Displays bringt, gewinnt – internen Zuspruch, die Gunst der Öffentlichkeit, neue Kunden und sogar Ausschreibungen. Das geschriebene Wort ist ein Wertbeitrag. Seine Bedeutung spiegelt sich nicht zuletzt in den Anforderungen für Kommunikations-Jobs wider. So suchte beispielsweise eine Unternehmensberatung jüngst einen Associate Content Writer (m/w/d) und eine Großbank einen Ghostwriter (m/w/d). Und zwar in beiden Fällen explizit für das Verfassen von Namensbeiträgen, Fach- und Blog-Artikeln für das obere Management. Eine internationale Consultingfirma warb gar um einen Kreativautor (m/w/d) für Redaktion, Botschaften-Management und sprachliche Harmonisierung ihrer Angebotsprosa. Eine weitere Facette, die zeigt: Text bleibt ein Schlüsselformat der PR- und Positionierungsarbeit.

Bulletin: Text lebt

Grund genug, mit einer optimistischen These zu schließen: Im Kanon der Unternehmenskommunikation muss der Text um seine Daseinsberechtigung nicht fürchten. Ein gutes Lesestück war schon immer ein Magnet und wird es auch bleiben. Das geschriebene Wort mag eine der ältesten Ausdrucksformen des Internets sein. Ein Auslaufmodell ist es deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil. Ein starker Text ist wie ein Fels in der Brandung tosenden Contents. Und wird genau deshalb auch in Zukunft sein Publikum finden.


Foto: Evie Shaffer via Unsplash

Diesen Text habe ich zuerst bei LinkedIn veröffentlicht.

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