Erbauliche Ansprachen zum Thema Wandel und Erneuerung werden zuhauf gehalten. Aber wie ist es um die Transformation der Rede selbst bestellt? Von Innovationsfreude ist in Unternehmen wenig zu spüren, wenn es um dieses traditionelle Format geht. Zu den spannenden Ausnahmen zählt Daimler. Der Stuttgarter Automobilkonzern experimentiert schon seit einiger Zeit mit digitaler Rhetorik.
Wie wir kommunizieren, hat sich im Fahrtwind der Digitalisierung mit faszinierender Geschwindigkeit verändert. Nur eine Disziplin scheint sich allen grundstürzenden Entwicklungen zu entziehen: die klassische Rede. Umso interessanter ist, was derzeit bei Daimler geschieht. Der Autobauer schickt das gesprochene Wort in die virtuelle Verlängerung – unter anderem mithilfe seiner Online-Plattform Mercedes me media. Das neuartige Arbeitstool, das die Agenturgruppe Oliver Schrott im Auftrag von Mercedes-Benz entwickelt hat, feierte vor einem Jahr Premiere. Im Frühjahr wurde es mit dem Internationalen Deutschen PR-Preis 2018 der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG) in der Kategorie „Corporate Media“ ausgezeichnet.
Wie sind die Erfahrungen mit Mercedes me media? Welche Auswirkungen hat das Digitalzeitalter auf die Rhetorik von Managern? Und was heißt das für Kommunikatoren und Ghostwriter? Über Fragen wie diese habe ich mit zwei Männern vom Fach gesprochen: Tobias Just leitet bei Daimler das Team der Vorstands-Redenschreiber und den Bereich Corporate Media; sein Kollege Willem Spelten verantwortet die Marken- und Social-Media-Kommunikation für Mercedes-Benz.
Im vergangenen Herbst sind Sie rechtzeitig zur Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) mit Ihrer Online-Plattform Mercedes me media an den Start gegangen. Wie ist die Idee zu dieser ungewöhnlichen Form der Medienarbeit entstanden?
Willem Spelten: Bei Daimler veranstalten wir Jahr für Jahr rund um den Globus mit großem Aufwand Messen und Fahrzeug-Weltpremieren. An solchen Events kann schon aus rein physischen Gründen immer nur eine begrenzte Zahl an Journalisten teilnehmen. Wir haben deshalb überlegt: Was braucht ein Medienvertreter, der von einem beliebigen Ort aus am Computer unsere Veranstaltungen verfolgt, um perfekt arbeiten zu können? Herausgekommen ist Mercedes me media.
Was genau bietet die Plattform dem Benutzer?
Willem Spelten: Unser Arbeitstool hat verschiedene Bausteine. Sie können als Journalist während der Übertragung zwischen unterschiedlichen Kamerawinkeln wechseln. Das gibt Ihnen das Gefühl, bei der Presseshow live dabei zu sein. Außerdem haben Sie die Möglichkeit, sich von jedem beliebigen Streamingbild ganz bequem per Mausklick einen hochauflösenden Screenshot zu ziehen. Ganz so, als wären Sie mit einer großen Profi-Kamera selbst vor Ort. Etwas Vergleichbares gibt es unseres Wissens bislang nicht. Mercedes me media war kein fertiges Produkt, sondern wir haben die gesamte Plattform mit Unterstützung von Oliver Schrott Kommunikation und deren Digitaltochter Compuccino selbst entwickelt.
Als Redenschreiberin fasziniert mich eine Funktion besonders: Der Zuschauer kann nicht nur das Bühnenevent, sondern parallel auch den Sprechtext der Rede in Echtzeit mitverfolgen. Was steckt dahinter?
Willem Spelten: Klassischerweise hört ein Journalist die Rede und macht sich dazu Notizen. Mit unserem Tool wird es komfortabler, dem Event zu folgen. Denn wir bieten die Möglichkeit, den Prompter-Text rechts vom Kamerabild mitlaufen zu lassen. Passagen im Redeskript lassen sich dort direkt markieren. Diese Zitate können Sie für Ihren späteren Artikel abspeichern – und wenn Sie möchten, auch sofort auf Twitter oder anderen sozialen Kanälen teilen.
War das Redenschreiber-Team bei dem Vorhaben von Anfang an mit im Boot?
Tobias Just: Projekte dieser Art sind immer ein „Gesamtkunstwerk“. Wie bei allen Event-Bespielungen gibt es Kollegen, die sich darum kümmern, dass die Journalisten vernünftig betreut werden; wieder andere sorgen dafür, dass die Bühnenshow funktioniert. Ein Teil vom Ganzen – wenn auch kein ganz irrelevanter – ist die Rede. Auch bei Mercedes me media waren mein Team und ich bereits in die Entwicklungsphase eingebunden.
„Wir waren einfach kolossal genervt von der Ineffizienz des Live-Events Rede.“
Sie experimentieren mit dem Kommunikations-Klassiker schlechthin, der Rede. Aus welchem Antrieb?
Willem Spelten: In der Vergangenheit haben wir großartige, unterhaltsame, fantasievolle, lustige Reden präsentiert, auf Bühnen mit „Wetten-dass“-mäßigen Show-Konzepten – und das nicht selten vor nur zweihundert Leuten. Mit Verlaub: Das bedeutet, Perlen vor die Säue zu werfen.
Tobias Just: Ja, wir waren einfach kolossal genervt von der Ineffizienz des Live-Events Rede. Unser CEO bestreitet etliche Auftritte im Jahr, intern wie extern. Das vorzubereiten, verlangt ein hohes Maß an Arbeit. Gleichzeitig sieht der Kalender von Herrn Zetsche aus wie der der meisten Vorstandschefs in großen Unternehmen. Dementsprechend genau ist zu überlegen, auf welche Podien wir uns konzentrieren. Nicht immer sitzen so viele Menschen im Saal wie zum Beispiel am Vorabend einer IAA. Und von den anwesenden Journalisten im Publikum macht vielleicht die Hälfte auch wirklich eine Geschichte. Ob das dann den ganzen Aufwand lohnt, muss man halt abwägen. Die Möglichkeit, Veranstaltungen zu übertragen, ist daher Gold wert. Dass wir jetzt eine Plattform haben, die wir selber kontrollieren können, ist das Allerbeste.
Sie nutzen Mercedes me media inzwischen seit einem Jahr. Wie wird die Skript-Funktion angenommen?
Willem Spelten: Unsere Erfahrungen mit dem Portal sind sehr gut, die Nutzerzahlen steigen kontinuierlich. Wir sehen, ob das Redeskript eingeblendet wurde. Wie stark letztlich damit gearbeitet wird, können wir nicht messen. Aber die Länge der Zugriffe zeigt uns, dass die Leute sich die Shows tatsächlich anschauen und nicht mal eben nur für eine Minute vorbeisurfen.
Was würde passieren, wenn der Redner spontan vom vorbereiteten Sprechtext abweicht? Das kann das Tool ja nicht abbilden, oder?
Willem Spelten: Richtig, es ist streng genommen kein Transkript, sondern es läuft der Redetext mit, wie er endabgestimmt wurde. Etwaige Überraschungen nimmt der Zuschauer dann einfach per Videostream mit. Journalisten finden es ja durchaus gut, wenn auch mal etwas vom Standard abweicht.
Tobias Just: (lacht) Wir sind ein konservatives Unternehmen. Bei uns halten sich die Führungskräfte an ihre Manuskripte.
„Jeder, der sich für unsere Presseevents interessiert, soll sie sich auch anschauen können.“
Die Performance auf der Bühne ist Teil der Redekunst. Inwieweit beeinflusst die Live-Plattform den Auftritt Ihres CEOs?
Tobias Just: Da hat sich schon einiges verändert in der letzten Zeit. Damit meine ich nicht, dass Herr Zetsche keine Krawatte mehr trägt, das war eine private Modeentscheidung. Vielmehr will ich darauf hinaus, dass wir heute deutlich mehr Bewegung haben. Auftritte, wie wir sie bei Mercedes me media übertragen, werden nahbarer, dialogischer, ein bisschen „amerikanischer“. Diese Entwicklung, das Gesetzte, Statushafte langsam aufzubrechen, hat übrigens zunächst auf internen Veranstaltungen begonnen. Da waren wir anfänglich mutiger als extern.
Auch, was die Art des Sprechens betrifft?
Tobias Just: Ich würde für uns in Anspruch nehmen, dass unser CEO bei Präsentationen dieser Art inzwischen eine deutlich andere, stärker auf Mündlichkeit ausgerichtete Sprache benutzt. Ganz im Gegensatz zur gestelzten Hauptversammlung, wo jeder Sprechtext durch die Hände von zahlreichen Juristen geht und von Rhetorik nicht viel übrigbleibt. Solche Formate sind ja auch deshalb so unsympathisch, weil der Mensch da aus Sicherheitsgründen quasi wie ein Solitär anderthalb Meter über dem Publikum stehen muss.
Willem Spelten: Apropos Nahbarkeit: Mercedes me media haben wir bewusst so angelegt, dass auch Nicht-Journalisten sich die Reden anschauen und alle Funktionalitäten nutzen können. Wer sich auf dem Portal anmeldet, wird von uns nicht nach einem Presseausweis gefragt. Wir wollen eine Love-Brand sein. Niemand soll mehr Scheu haben, in ein Mercedes-Autohaus zu gehen, nur weil er glaubt: Wenn ich kein Auto für 100.000 Euro kaufen will, wirft mich der Verkäufer eh wieder raus. Von diesem hohen Ross wollen wir runter. Und deshalb haben wir entschieden: Jeder, der sich für unsere Presseevents interessiert, soll sie sich auch anschauen können. Wir verstecken uns nicht. Im Gegenteil.
Stellt diese erweiterte Form der Öffentlichkeit neue Anforderungen an Ihren Redenschreiber-Stab?
Tobias Just: Ein Vortrag auf Mercedes me media muss ein gewisses Maß an Erklärung und ein gewisses Maß an Entertainment liefern, damit er für das Publikum Mehrwert hat. Unsere Plattform ist für mich so nah an Live, dass fürs Redenschreiben dieselben Regeln gelten, egal ob man uns im Saal oder draußen im Internet zuschaut.
Gibt es noch andere Spielfelder, auf denen Sie mit digitaler Rhetorik herumprobieren?
Tobias Just: Schon zur Tradition geworden sind die Weihnachtsfilme unseres Chefs. Diese Videos hatten wir zuerst nur für interne Zwecke gedreht, sie wurden dann aber von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schnell auch nach außen getragen. Heute produzieren wir diese etwas andere Form der Weihnachtsansprache von Anfang an für die externe Öffentlichkeit.
„Es ist einfach Verschwendung, wenn man keine digitale Verlängerung der Rede macht.“
Etwas Neues haben wir im Sommer bei der RISE-Konferenz in Hongkong ausprobiert, wo Herr Zetsche zum ersten Mal aufgetreten ist. Der Techgipfel hatte in diesem Jahr den Schwerpunkt künstliche Intelligenz. Wir haben im Vorfeld auf unseren Social-Media-Kanälen die Leute gefragt: Was genau bewegt euch bei diesem Thema? Auf welche Punkte soll Herr Zetsche besonders eingehen? Darauf haben wir eine sehr substanzielle Resonanz bekommen, beispielsweise Fragen nach der Gesundheitsförderung im Fahrzeug oder neuen Stadt- und Verkehrsleitsystemen. Richtig gute Sachen, die unser CEO dann auch tatsächlich auf der Konferenz diskutiert hat und die wir anschließend in den sozialen Netzwerken wieder zurückgespielt haben. Auf diese Weise konnten wir rund um die Veranstaltung eine mehrstufige Kommunikation erzeugen – nicht nur als Monolog, sondern im Dialog.
Willem Spelten: Mit dialogischen Formaten haben wir auch schon letztes Jahr auf dem Festival South by Southwest in Texas experimentiert, wo Herr Zetsche eine klassische Keynote gehalten hat. Diese Ansprache haben wir abgefilmt und sie bei YouTube hochgeladen, was sich relativ wenige Leute angeguckt haben, vielleicht 10.000. Nach der Rede haben wir unseren Chef zusammen mit Jen-Hsun Huang, dem CEO des kalifornischen Chipherstellers Nvidia, in einen mit drei Kameras bestückten Wagen gesetzt und beide durch Austin fahren lassen. Herausgekommen ist ein viertelstündiger, cool gemachter und inhaltlich spannender Talk, den schon 50.000 Menschen angeklickt haben. Daraus wiederum haben wir noch einen 2,5-Minüter mit den Highlights geschnitten, der es dann auf 100.000 Zuschauer gebracht hat. Das zeigt: Man kann mit einem unterschiedlich aufbereiteten Content maximal viel erreichen.
Man könnte sagen, Sie machen die traditionelle Rede plattformfähig – und multiplizieren damit ihre Wirkung?
Tobias Just: Es ist einfach Verschwendung, wenn man keine digitale Verlängerung der Rede macht. Weshalb wir übrigens im vergangenen Jahr auch mit LinkedIn angefangen haben. Der Account dort von Herrn Zetsche ist aus derselben Idee geboren: In den Reden, die wir für ihn vorbereiten, steckt sehr, sehr viel Arbeit. Warum sollen wir diesen Content nicht mehr Leuten zugänglich machen? Einen LinkedIn-Beitrag unseres Chefs schauen sich schon mal bis zu 400.000 Leute an. Das ist ziemlich gut, solche Reichweiten kriegen Sie mit einer Live-Rede nicht so ohne Weiteres hin.
„Man darf nicht zu viel Stolz haben, einen halbstündigen Redetext auf ein Zweieinhalb-Minuten-Format herunter zu kürzen.“
Willem Spelten: LinkedIn ist ja auch deshalb so interessant für uns, weil dort viele Journalisten mitlesen. Wir beobachten, dass ein Post von Herrn Zetsche zunehmend häufiger in den Medien zitiert wird als die praktisch wortgleiche Sprachregelung, die ich herausgebe. Statt „Ein Sprecher sagte“ heißt es dann „Dieter Zetsche schrieb“. Denn hier haben Sie quasi wie bei Mercedes me media den O-Ton des Chefs. Das ist ein riesiger Unterschied, was die Glaubwürdigkeit betrifft. Auch wegen dieser gefühlten Authentizität gibt es bei uns eine klare Verschiebung zu Gunsten der sozialen Kanäle.
Tobias Just: Was man allerdings nicht verschweigen darf: Inhalte für verschiedene Kanäle und Formate zu adaptieren, ist deutlich mehr Arbeit als früher. Für eine Story bei Instagram gelten nun mal andere Regeln als bei einem LinkedIn-Post. Das wiederum setzt voraus, dass das Team nicht nur Reden schreiben kann. Es muss auch die Fähigkeit und den Willen mitbringen, solche Texte für eine ganze Kette weiterer Ausspielformen anzupassen und zu verbreiten.
Eine letzte Frage, die sicherlich nicht nur Redenschreiberinnen und Redenschreiber bewegt: Welche Rolle wird das gesprochene Wort in der Zukunft noch spielen?
Willem Spelten: Sagen wir so: Sich zwei Wochen wegzuschließen, um eine Rede zu schreiben, die dann eine Person einmalig auf nur einer Bühne hält – die Zeiten sind für mich vorbei. Das halte ich für Vergeudung von geistigem Potenzial, denn so erreicht man einfach viel zu wenig Leute. Auch darf man nicht zu viel Stolz haben, einen halbstündigen Redetext auf ein Zweieinhalb-Minuten-Format herunter zu kürzen. Schließlich soll das, was Sie inhaltlich entwickelt haben, ja auch Durchschlagskraft im Netz haben.
Tobias Just: Wobei ich nicht glaube, dass das gesprochene Wort an Bedeutung einbüßen wird. Im Gegenteil, es bekommt durch neue Verbreitungsmöglichkeiten Auftrieb, weil es deutlich besser zugänglich wird. Bei Daimler machen wir uns zum Beispiel gerade Gedanken über die Einführung eines Podcasts. Schon immer haben sich die Menschen Geschichten erzählt, das wird auch in Zukunft so bleiben. Wenn dann auch noch die Sprache stimmt und wir uns weder hohlen Werbephrasen beugen noch allein von Rechtsabteilungen die Feder führen lassen, wird das gesprochene Wort auch in einhundert Jahren noch die Relevanz haben, die es heute hat.
Titelfoto erstellt via Mercedes me media (Screenshot aus dem Video „Mercedes-Benz Media Night“, IAA Frankfurt 2017)
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