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Das Reifezeichen

Wussten Sie, dass das Fragezeichen sehr viel älter ist als das Ausrufezeichen? Über eine Fußnote der Schreibgeschichte.

Das Fragezeichen taucht bereits im frühen Mittelalter in Handschriften auf. Und zwar unter der Ägide von Karl dem Großen, der sich auch als Bildungsreformer und Wegbereiter der Interpunktion hervorgetan hat. Seine Hofschule gilt als Wiege des Fragezeichens. Ab dem 9. Jahrhundert erobert das Satzzeichen im Gefolge der neuartigen Schriftart „karolingische Minuskel“ vermutlich von Aachen aus die Schreibstuben Europas.

Das Ausrufezeichen dagegen ist ein Phänomen der Neuzeit und damit bedeutend jünger. Erst im 17. Jahrhundert wird es vom Pädagogen und Grammatiker Wolfgang Ratke in dessen„SchreibungsLehr“ für das Deutsche genauer beschrieben. Das anfangs auch Verwunderungszeichen genannte Satzzeichen ist eine Art Ur-Emoji. Es soll Gemütsregungen zum Ausdruck bringen und Passagen Nachdruck verleihen.

Das Ausrufezeichen, das uns heute überall anbrüllt, ein Spätzünder?

Das ist interessant. Der schreibende Mensch stellte also Fragen, lange bevor er anfing, herumzuschreien. Inmitten der ramponierten Debattenkultur unserer digitalen Gegenwart birgt dieser Gedanke einen kleinen Triumph. So, wie das Fragezeichen auf immer das erstgeborene, reifere Zeichen bleibt, werden Wissbegierde und Neugier der bloßen Behauptung stets etwas voraushaben: einen charakterlichen Vorsprung, den das Ausrufezeichen niemals aufholen wird.

Auch wenn beide Satzzeichen in der Schriftlichkeit ihre Berechtigung haben: Ich persönlich lese auf Social Media nach wie vor lieber leise Texte, die nach Antworten und Erkenntnissen suchen, als solche, die mir ihre Weisheiten lautstark entgegenschleudern.

Nur eine Sorte von Fragen geht mir auf den Geist, die man vor allem auf LinkedIn antrifft. Sie ahnen vielleicht, welche ich meine. Wo das Fragezeichen in penetranter Geschäftstüchtigkeit um Interaktion bettelt und sich am Ende wie ein Ausrufezeichen benimmt, kann ich es leider nicht ernst nehmen. Denn da verkauft es seine Seele.


Foto: Evan Dennis via Unsplash


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