Unser Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Feiern dürfen wir es auch für seine Ausdruckskraft. Sie ist dort am größten, wo die Rechtssprache Mut zur Einfachheit beweist.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eine Zensur findet nicht statt. Eigentum verpflichtet. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Die Todesstrafe ist abgeschafft. – Es sind die knappen Sätze, die im Grundgesetz besonders hell aufleuchten. In ihrer Kürze und Klarheit wirken sie geradezu bestechend. Abstrakte Werte und Ordnungsregeln, gegossen in einfache, griffige Worte. Wenn Schönheit sich jemals in juristischen Texten offenbart hat, dann hier – in den Hauptsätzen unserer Verfassung.
Längst nicht überall hält das Grundgesetz diesen Ton, das wird häufig beklagt. Ergänzungen haben ihm zugesetzt und seine Sprache über die Jahre behäbiger gemacht. Die neuen Teile erkenne man oft schon am drögeren Sound, heißt es in einem Stück der Süddeutschen Zeitung von 2023, das sich auf eine Kritik des Verfassungsrechtlers Horst Dreier beruft. In einem früheren Artikel zitiert Die Welt den Staatsrechtler Heinrich Amadeus Wolff, der durch die vielen Änderungen neben der „Schlichtheit im Ausdruck“ auch Ästhetik und Lesbarkeit der Ursprungsfassung beschädigt sieht.
Kühne Reduziertheit
Trotzdem: Das Grundgesetz ist und bleibt ein Text von unerhörter Wucht. Wegen seiner kühnen Reduziertheit an entscheidenden Stellen. Aber natürlich auch deshalb, weil es so viel mehr ist als nur ein rechtlicher Schriftsatz. Das Grundgesetz ist ein aus den moralischen Trümmern unserer Geschichte geformtes Bekenntnis zu Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Es ist und bleibt der kostbarste Schatz unserer Demokratie. Ein allerhöchstes Gut, das zu beschützen und zu verteidigen wir alle aufgerufen sind.
Darum ist auch die Präambel so angemessen, in der es eingangs feierlich heißt: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Als Theodor Heuss zusammen mit den anderen Vätern und Müttern des Grundgesetzes an dessen Ausformulierung feilte, schwebte ihm für die Präambel eine bestimmte Klangfarbe vor. Sie müsse „eine gewisse Magie des Wortes besitzen“, fand der Journalist und Publizist, der später zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde.
Dass dieser Zauber sich auch 75 Jahre später nicht verflüchtigt hat, ist erstaunlich und wunderbar. Die Worte sind wie ein starkes Band, das uns mit der Gründergeneration unserer Demokratie verbindet. Das Grundgesetz spricht die Sprache der Zeit, in die es hineingeboren wurde. Seine Größe und Schönheit sind zeitlos. Das sollten wir feiern – heute und immer wieder aufs Neue.
Foto: Nicola Karnick
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