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Sprachgeschichten: Zurück zu den Wurzeln

Wir verknüpfen Wörter zu Sätzen und formen daraus Reden und Texte. Doch manchmal hat bereits ein einzelner Begriff eine ganze Geschichte zu erzählen. Der Herkunft von Vokabeln mehr Beachtung zu schenken, kann die Kommunikation bereichern. Eine Einladung in Sachen Etymologie.

In einer ihrer letzten großen Reden im Amt der Bundeskanzlerin überraschte Angela Merkel mit einem lexikologischen Exkurs. Beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2021 in Halle an der Saale war die scheidende Regierungschefin auf ihre persönliche Lebensgeschichte zu sprechen gekommen. Dabei erwähnte sie einen politischen Aufsatz, in dem jemand ihre DDR-Biografie als „Ballast“ bezeichnet hatte.

Merkel verweilte bei dem Begriff und holte zu seiner eigentlichen Bedeutung aus. Sie tat das, indem sie aus dem Duden zitierte. Das seemännische Wort Ballast, so belehrte Merkel das Publikum, stünde für eine „schwere Last“, die in der Regel „als Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt wird“ oder als „unnütze Last, überflüssige Bürde“ abgeworfen werden könne.

Dass die Kanzlerin mithilfe der Sprachinstanz Duden den Ursprüngen der Vokabel auf den Grund ging, war ein rhetorischer Kniff. Sie machte dadurch anschaulich, welche Respektlosigkeit in dem Ballast-Vergleich steckt. So konnte sie die Zuhörerschaft geschickt zum eigentlichen Kernmotiv ihrer Rede lotsen: der unzureichenden Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen im seit Jahrzehnten wiedervereinten Land.

Maschen im Sprachstoff

Mir gefiel der gedankliche Griff zum Duden, den die Redenschreiber:innen sich für Merkels Ansprache hatten einfallen lassen. Wörter nachzuschlagen und ihrer Herkunft auf die Schliche zu kommen, ist bei mir fast schon eine kleine Obsession. Was es da nicht alles zu entdecken gibt: linguistisch Naheliegendes, aber auch allerhand Merkwürdigkeiten. Nehmen wir nur die Welt der Wirtschaft: Dass sich der Begriff Industrie vom lateinischen industria für Fleiß und Beharrlichkeit ableitet, mag sich herumgesprochen haben. Ebenso wie der (geradezu kalauerhafte) Umstand, dass Arbeit in den Bedeutungen Mühsal, Plage und Anstrengung wurzelt.

Aber kennen Sie schon den Hintergrund von Pensum? Das Wort stand ursprünglich für die einer Spinnerin zur täglichen Verarbeitung zugewogene Wollmenge. Es trägt das Verb pendere (lat.) in sich, in dem Sie vielleicht die pendelnden Waagschalen für die exakte Zuteilung des Materials erkennen. Was früher die zu spinnende Wolle war, kann längst eine beliebige andere, auch geistige Aufgabe sein. Doch damals wie heute drückt das Pensum aus, dass Sie etwas Vorgegebenes binnen einer bestimmten Frist schaffen müssen.

Mit Wolligem hat kurioserweise auch die Geschichte des Begriffs Büro zu tun, den wir aus dem Französischen entliehen haben. Das Bureau geht zurück auf die Wörter burra (lat.) und bure (frz.), die vormals ein zottiges Gewand beziehungweise einen groben Wollstoff bezeichneten. Wie diese Verbindung zustande kommt? Mönche nutzten einst ihre Kutten als Schreibunterlage, wenn sie an hölzernen Pulten arbeiteten. Auch die Tische in den Amtsstuben waren früher mit Tuch bekleidet. Hier ist ein Wort, das zunächst nur die Stoffbedeckung beschrieb, über das damit ausstaffierte Möbelstück schließlich auf den gesamten Raum und seine Funktion übergegangen. Faszinierend. 

Erhellende Wortgefechte

Von Wolle und Stoffen wiederum führt ein Faden zu dem Wort Text. Der nämlich als textus (lat.) gleichfalls ein Gewebe meinte, was seinerseits zurückgeht auf texere für weben, flechten, kunstvoll zusammenfügen. Gibt es ein schöneres Gleichnis für die Tätigkeit des Schreibens?

KOMMUNIKATION. Wir alle kennen diesen Begriff als Beschreibung einer sozialen Handlung. Weniger geläufig ist seine wehrhafte Vergangenheit. Erfahren Sie mehr über die erstaunliche Etymologie im Wortporträt „Wanderwege der Kommunikation“. 

Überhaupt sind all die Begriffe rund um Kommunikation (siehe Box) eine wahre Fundgrube. Da ist zum Beispiel der von Medien, Politik und PR gerne bemühte Diskurs, in dem das physische Umher- und Auseinanderlaufen des lateinischen discurrere steckt. Nicht zufällig sprechen wir bis heute davon, sich in Diskussionen über etwas zu ergehen. Apropos: Diskutieren kommt von discutere (lat.), was eigentlich zerspalten, zerteilen bedeutete. Das Verb hat damit eine ähnlich rabiate Vergangenheit wie debattieren (lat. battuere für schlagen). Ein Wortgefecht wiederum lebt im besten Fall vom Argument, das von arguere (lat.) mit der Grundbedeutung im hellen Lichte zeigen abstammt. Merke: Ein gutes Argument leuchtet ein – ein schlechtes, siehe oben, wird zerlegt.

Kurvenreiche Laufbahn

Viele Wörter haben ein Vorleben, das beim Verstehen hilft, indem es unsere Vorstellungskraft ankurbelt. Da ist beispielsweise das Berufsbild Coach. Dieser Anglizismus geht zurück auf die französische Bezeichung coche für Kutsche, die ihrerseits ein Wagen aus dem ungarischen Ort Kocs war (kocsi heißt übersetzt aus Kocs); ein zwischen Budapest und Wien gelegener mittelalterlicher Knotenpunkt für den Pferdewechsel, der später Berühmtheit erlangte durch die Fertigung gefederter Kutschwagen.

Bevor wir aber zu weit abschweifen: Das Wort Coach meinte bald nicht mehr nur das Gefährt, sondern auch die Person, die das Gewerbe des Kutschierens betrieb, Transporte begleitete oder Jungpferde für das Geschirr ausbildete. Mit dieser allmählich in den Vordergrund tretenden Bedeutung des Lenkens und Anleitens trabte der Begriff weiter durch die Sprachgeschichte und wurde schließlich zum Synonym für einen studentischen Tutor, Nachhilfe- bzw. Sportlehrer und Trainer. Also für jemanden, den man einspannt, um sich in Form bringen zu lassen. „Mit Coaching schneller als Ziel kommen.“ Kennt man den Werdegang des Wortes, erzeugt so ein Versprechen gleich ein ganz anderes Bild im Kopf. Auch kann es passieren, dass einem plötzlich der Karren (lat. carrus) in der (hoffentlich nicht festgefahrenen) Karriere ins Auge springt.

Sich mit der Vorgeschichte eines Wortes zu beschäftigen, weitet oft den Blickwinkel. Wie beim Klienten, unter dem man als cliēns (lat.) einst einen sich schutzeshalber an einen Patron Anlehnenden verstand. Der anlehnungsbedürftige Kunde, den wir stützen mit unserem Wissen und Können – auch das eine interessante neue Sicht. Dass dieser kunde (mhd.) oder kundo (ahd.) anfangs schlicht für den Bekannten, Einheimischen stand, erinnert an das Wesen guter Geschäftsbeziehungen: Man vertraut sich, weil man einander kennt.

Analoger Fingerzeig

Wer wüsste das besser als wir Freelancer? Wir sind zwar keine frei umherziehenden Söldnerinnen und Söldner mehr, die sich in finsteren Vorzeiten mitsamt ihren Lanzen (engl. lance) für beliebige Kriegszüge anheuern ließen. Aber streiten müssen wir bisweilen immer noch, etwa für ein faires Honorar. Ein Wort, das wohlgemerkt in der Bedeutung Auszeichnung, Ehrung, Anerkennung (lat. honōs, honor) wurzelt, was bei Bedarf ruhig hervorgekehrt werden darf.

Das sinnverwandte Salär war übrigens ursprünglich die Ration an Salz (lat. salārium), mit der Beamte und Soldaten entlohnt wurden. Falls Sie jetzt an gesalzene oder gar gepfefferte Preise denken: Nun ja, wer etwas verkauft, ist darauf angewiesen, dass seine Kalkulation aufgeht. Und wissen Sie, woher dieser Ausdruck kommt? Genau, vom Steinchen (lat. calculus als Verkleinerungsform zu calx für Kalk), mit dessen Hilfe einst auf Rechenbrettern addiert und subtrahiert wurde.

Heute kalkulieren wir natürlich digital. Aber Sie ahnen es schon: Auch dieses von Zukunftsfantasien umwehte Wort hat einen ganz handfesten Ursprung, nämlich den Finger (lat. digitus). Selbiger wurde (und wird) zum Zählen benutzt, was im Englischen erst digit für Ziffer hervorbrachte und schließlich in unserem Begriff des Digitalen mündete.

Charaktere mit Vergangenheit

Der Ausflug in die Etymologie ließe sich mit einer Fülle ähnlich einprägsamer Beispiele fortsetzen. Das würde allerdings Raum und Zeit sprengen. Was dieses Stück deutlich machen möchte: Unsere Wörter bergen Geschichte(n) in sich. Sprachkundliche Zusammenhänge und Details, die vielleicht noch nicht so bekannt sind und die sich lohnen, erzählt zu werden, auch in professionellen Formaten. Etwa als Kunstgriff in einer Rede, um Blogtexte zu unterfüttern oder eine nüchterne Präsentation zu garnieren.

Meine Erfahrung ist: Auch Menschen, die sich wenig mit Sprache und ihren Feinheiten beschäftigen, sind empfänglich für die verschlungenen Pfade von Begriffen und Bedeutungen. Sich gemeinsam auf Spurensuche zu begeben, löst beim Gegenüber oft freudiges Staunen oder doch mindestens ein Aha-Erlebnis aus.

„Wörter sind Lebewesen mit Ahnen, Verwandten, Gesicht, Körper, Musik, Geschmack, Geschichte und Wurzeln“, notierte einst der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami in seinen Tagebuchaufzeichnungen Mit fremden Augen. Eine, wie ich finde, schöne Vorstellung. Unsere Wörter sind weitgereiste Charaktere, und sie tragen einen reichhaltigen Kultur- und Unterhaltungsschatz mit sich. Teilen wir ihn großzügig. So erweitern wir unser Sprachwissen und befruchten gegenseitig unsere Kommunikation.


Sie möchten etwas über die Herkunft eines Wortes herausfinden? Erste Adresse ist das frei zugängliche Etymologische Wörterbuch des Deutschen. (Siehe auch Video unten.) Das Verzeichnis gibt Auskunft zu Alter, Herkunft und Verwandtschaft von Begriffen; es ist integriert in das fabelhafte Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) – ein wissenschaftliches Wortinformationssystem des Deutschen, das unentbehrlich ist für alle, die mit Sprache arbeiten. Anregungen finden Sie unter Umständen auch beim Projekt Wortgeschichte digital des ZDL (Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache). Eine bewährte Quelle ist der Online-DUDEN, in dem die Grundeinträge mit kompakten Herkunftshinweisen versehen sind. Ergiebig kann zudem eine Recherche in der freien Wortschatzsammlung Wiktionary sein. 

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„Eine Auseinandersetzung mit Etymologie zählt zu den beliebtesten Beschäftigungen im Bereich der sogenannten Laien-Linguistik.“ Alexander Lasch, Professor am Institut für Germanistik und Medienkulturen an der Technischen Universität Dresden, führt auf seinem YouTube-Kanal in die Benutzung des DWDS ein.

Foto: Markus Spiske via Unsplash

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